”Wo ist zu diesem Innen ein Außen” – Luthers ästhetische Vision unter Berücksichtigung der Heidelberger Disputation






Luther als ein ästhetischer Denker vorzustellen, heißt nicht nur zu behaupten, er sei persönlich künstlerisch begabt oder habe gelegentlich ästhetische Fragen überlegt. Vielmehr könnte man sagen, dass Luthers Theologie ein ästhetischer Grundcharakter habe. Dieser Charakter stellt sich dar nicht nur mit Luthers Sprachgebrauch, dem man auch ästhetisch und ausdrucksvoll benennen kann, sondern beschreibt seine Theologie als Ganzes.

Um diesen ästhetischen Grundcharakter nachzuweisen, ist es nicht genügend, Luthers berühmte Äußerungen über die Musik zu wiederholen (obschon Theologie der Musik hat mir dies ursprünglich geöffnet), sondern dieser Grundcharakter muss unbedingt in Luthers reformatorischen Hauptschriften wahrnehmbar sein. Deshalb werde ich im Folgenden Die Heidelberger Disputation untersuchen (mit einem kurzen Exkurs zum großen Galaterkommentar). Diese Disputation rechnet zweifelsohne mit die wichtigsten Darstellungen der Theologie Luthers.

In diesem Text sagt Luther paradoxerweise, was heißt es ein Theologe zu sein. „Der ist nicht wert, ein Theologe zu heißen, der Gottes ‚unsichtbares Wesen durch das Geschaffene erkennt und erblickt.‘ (Rom 1, 20) Sondern nur der, der Gottes sichtbares und (den Menschen) zugewandtes Wesen durch Leiden und Kreuz erblickt und erkennt." (Thesen 19-20) Nach diesen Wörter ist Theologie eine Art ästhetischer Schau – wenn auch eine widersprüchliche und schwer verständliche Schau – aber eine Schau jedenfalls.  Der Theologe „erblickt“ Gottes „sichtbares Wesen“ und dadurch „erkennt“ ihm. Diese Vision ist außerdem körperlich und sinnenhaft, weil Luther ausgesprochen alle platonische Spekulation ablehnt. Gott zu sehen heißt nicht eine tiefere geistliche Weisheit („unsichtbares Wesen“) unter die Oberfläche der Welt zu erkennen, sondern ihm im Leiden und Kreuz zu schauen.

Der Weg von der Kreuzestheologie zur Ästhetik ist nicht einfach. Schon am Anfang der Disputation hat Luther es klargemacht, dass die Kreuzestheologie nichts zu tun mit äußeren Schönheit im jedem beliebigen Sinne hat: „Dass Gottes Werke missgestaltet aussehen, macht jenes Wort Jes 53,2 deutlich: ‘Er hat keine Gestalt noch Hoheit.‘“ (These 4) Die Ästhetik des Kreuzes ist das genaue Gegenteil der Schönheit. Weil die scholastische Beschreibung des Schönes lautet: Pulchra sunt quae visa placent - schön ist, was dem  Blick gefällt, ist es augenfällig, dass der Kreuz tut ganz umgekehrt. Jesaja setzt fort: „Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor ihm verbarg.“

Dieses Bild vom Kreuz ist so kräftig und wichtig in Luthers Theologie, dass es sehr verständlich ist, damit verbundene positive Ästhetik zu übersehen. Jedoch deutet Luther schon in These 4 an, dass die missgestaltete Vision des Kreuzes nicht die endgültige ist. „Wenn wir [unsere Sünden] erkennen und bekennen, dann haben wir keine Gestalt noch Schöne, sondern unser Leben ruht in der Verborgenheit Gottes (d. h. im nackten Vertrauen auf seine Barmherzigkeit)…das ist Gottes fremdes Werk, damit sein eigentliches Werk an uns geschehe (d.h. er demütigt uns vor uns selbst, nimmt uns die Hoffnung auf uns selber, damit er uns erhöhe in seiner Barmherzigkeit…“
Das eigentliche Werk Gottes ist auch ästhetisch formuliert:  „Die Sünder sind deshalb schön, weil sie geliebt werden, sie werden nicht deshalb geliebt, weil sie schön sind.“ (These 28)  Dies ist nach meiner Meinung  die vornehmste Kurzfassung der lutherischen Rechtfertigungslehre.  In diesem Hinsicht ist die Rechtfertigung durchaus ästhetisches Geschehen: Gott sieht uns an durch Christus und hält uns für schöne.
Die Rechtfertigung öffnet die Möglichkeit zur ästhetischen Betrachtung der Welt. Sucht man nach Gottes unsichtbares Wesen durch das Geschaffene, wird es nie gelingen. Aber sonst, wenn man sieht die Welt an sich, wenn man annimmt die Welt und blickt die Schöpfung als sie ist, mit Wonne und Erstaunen, dann kann man mit Rainer Maria Rilke fragen: „Wo ist zu diesem Innen ein Außen?“  Es ist nicht oberflächlich, die Schönheit der Welt zu bemerken, weil genau dieses – in der eigentlichen Meinung - nur für Gott möglich ist. In der große Galaterkommentar  (1531) sagt Luther: „Durch diese Tat [Christi] ist die ganze Welt gereinigt und von allen Sünden entsühnt und darum ist auch volle Freiheit von dem Tod und allen Übeln vorhanden. Denn wenn die Sünde und der Tod aufgehoben sind durch diesem einen Menschen, dann möchte Gott für den Fall, dass man das glaubt, nichts anderes sehen als lauter Reinigung und Gerechtigkeit. Und wenn denn Reste der Sünde bleiben, so möchte Gott sie nicht sehen – da die Sonne, Christus, darüber leuchtet“ (WA 40 I, 438)
Ich will den folgenden Satz auch lateinisch lesen: “Deus nihil aliud videret amplius in toto mundo, praesertim si crederet, quam meram purgationem et justitiam.“ Wohin weisen die Wörter praesertim si crederet zu? Versuchen sie zu sagen, dass Gott nur die glaubende Welt als Gerecht ansieht? So kann man natürlich Luthers Betonung anschließen. Gott blickt am Glaube des Herzens. Der Glaube allein gefällt dem Gott. Der Glaube ist aber nicht die Sonne, die der Welt erleuchtet. Der Glaube gefällt Gott wegen Christus, der die Sonne ist.  Deshalb ist es möglich, der Glaube als gleichbedeutend mit ästhetischen Kontemplation zu verstehen. Wenn man das wirklich glaubt (praesertim si crederet) was Christus hat getan, heißt es mit anderen Worten zu behaupten, dass Gott nichts anderes in der Welt sieht, als lauter Reinigung und Gerechtigkeit.
Infolgedessen ist der Mensch auch sozusagen ästhetisch verpflichtet. Weil Gott die Welt liebhat und sie ansieht als schöne, muss der Mensch nicht anders halten. Sich über die Schönheit der Welt zu freuen ist recht und christlich. Es gibt nichts Oberflächliches. „Wo ist zu diesem Innen ein Außen?“

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